Ein Gespräch im Rahmen des Monats des Achtsamen Selbstmitgefühls mit Chris Germer, Mitbegründer des Programms Mindful Self-Compassion, Achtsames Selbstmitgefühl
Chris Germer hat das Programm Mindful Self-Compassion (MSC) gemeinsam mit Kristin Neff entwickelt. Das Ziel der beiden Psycholog:innen: zur Weiterentwicklung einer zentralen menschlichen Fähigkeit – dem Mitgefühl mit sich und anderen – beizutragen. Mittlerweile gibt es eine Fülle an Studien, die belegen, dass Selbstmitgefühl unter anderem das emotionale Wohlbefinden steigert, innere Stärke fördert und Angst und Depression mindert.
Chris, du bist Mitbegründer des MSC-Programms – wie hat Selbstmitgefühl dein eigenes Leben beeinflusst oder verändert?
Ich praktiziere Selbstmitgefühl aktiv seit 2006, und der für mich damals beeindruckendste Effekt war, dass sich meine jahrelange Angst vor öffentlichen Reden durch diese Praxis wirksam gelöst hat. Selbstmitgefühl hat mein Selbstvertrauen gestärkt und es hat den subtilen Einfluss von Scham verringert. Insgesamt hat mich Selbstmitgefühl zu einem glücklicheren und zufriedeneren Menschen gemacht.
Ich habe das Privileg, an vielen Orten der Welt Selbstmitgefühl zu lehren. Teil einer globalen Gemeinschaft von Menschen zu sein, die Mitgefühl schätzen und mehr Mitgefühl in die Welt bringen möchten – die Freude darüber ist wohl der größte Schatz, den mir das Selbstmitgefühl geschenkt hat. Glücklicherweise kann heutzutage jeder Mensch in Präsenz oder online Teil dieser Gemeinschaft sein.
Außerhalb der USA, wo du gemeinsam mit Kristin Neff das Programm 2010 entwickelt hast, waren die deutschsprachigen Länder die ersten, die sich für Selbstmitgefühl interessiert haben. Der erste Ausbildungskurs war 2014, richtig?
Ja, angestoßen hat das wesentlich Lienhard Valentin, der Gründer des Freiburger Arbor Verlags. 2014 haben wir im Schwarzwald die ersten Lehrenden ausgebildet. Kristin und ich waren damals noch mit dabei. Seitdem ist die MSC-Community in Deutschland, Österreich und der Schweiz stetig gewachsen, derzeit auf 450 MSC-Lehrende.
Diese unsere Welt ist mit unglaublich vielen existenziellen Herausforderungen konfrontiert: Klimakatastrophe, Kriege, Flucht, unfassbare Ungerechtigkeiten. Kann da Selbstmitgefühl überhaupt etwas bewirken?
Ja, das Ausmaß unserer globalen Probleme ist beispiellos, und die meisten von uns leiden, bewusst oder unbewusst, unter traumatischem Stress. Ich halte Selbstmitgefühl für eine essenzielle Fähigkeit, um sich in dieser komplexen Welt zu orientieren – und diese Einschätzung wird durch immer mehr Forschungsergebnisse untermauert.
Seit Anbeginn der Menschheit ist Mitgefühl ein wirksames Mittel gegen die eigene innere Not und gegen zwischenmenschliche Feindseligkeit. Mitgefühl steht jedem von uns zur Verfügung und wir können diese Fähigkeit jederzeit üben und weiterentwickeln.
Wie?
Der einfachste Weg, Mitgefühl für andere zu entwickeln, besteht darin, Mitgefühl für uns selbst zu entwickeln, und zwar genau dann, wenn wir uns am meisten bedrückt oder überfordert fühlen. Sich von den Problemen der Welt überfordert zu fühlen, ist kein Problem; es ist eine Chance. Wenn immer mehr von uns Mitgefühl entwickeln – inneres und äußeres, sanftes und kraftvolles, mit uns und mit anderen –, ist es wahrscheinlicher, dass wir die Probleme der Welt lösen. Bis dahin können wir etwas von dem Frieden kultivieren, den wir in die Welt bringen möchten.
Selbstmitgefühl fördert also nicht den Egoismus und hält uns davon ab, das große Ganze im Blick zu behalten?
Eine der Mythen über Selbstmitgefühl ist, dass es egoistisch ist. Die Forschung dazu ist eindeutig: Wenn wir mitfühlender mit uns selbst werden, werden wir auch mitfühlender mit anderen. In Beziehungen zum Beispiel sind selbstmitfühlende Menschen eher bereit, Fehler zuzugeben und Kompromisse zu schließen. Das gemeinsame Menschsein anzuerkennen ist ein wesentlicher Aspekt des Selbstmitgefühls – es ist die Voraussetzung dafür, nachhaltig in der Welt zu handeln.
Wer kann durch das MSC-Programm unterstützt werden?
Jeder Mensch kann Selbstmitgefühl lernen. Also auch diejenigen, die in ihrer Kindheit wenig Zuneigung erfahren haben. Diejenigen mit einer lauten kritischen Stimme, für die es sich sehr, sehr schwierig anfühlt, mit sich selbst freundlich zu sein.
Das reguläre MSC-Programm ist für Erwachsene konzipiert. Mittlerweile gibt es Adaptionen für Kinder, Teenager und junge Erwachsene, aber auch für spezielle Zielgruppen wie die LSBTIQ+ Community. Außerdem wurde das Programm angepasst für Menschen mit chronischen Krankheiten wie Krebs oder Diabetes und für Menschen mit Burn-out, Angstzuständen, Depressionen oder Traumata.
Dr. Chris Germer
ist klinischer Psychologe und Dozent für Psychiatrie an der Harvard Medical School. Seit er das Programm Mindful Self-Compassion (MSC) 2010 gemeinsam mit Kristin Neff entwickelt hat, haben mehr als 250.000 Menschen weltweit an Kursen zum Achtsamen Selbstmitgefühl teilgenommen. 2012 gründeten Kristin und er das Center for Mindful Self-Compassion (centerformsc.org); 2015 unterstützte Chris den Aufbau des Center for Mindfulness and Compassion (chacmc.org ) der Cambridge Health Alliance. Dort arbeitet er auch als Dozent und leitender Berater. Er hält weltweit Vorträge und leitet Workshops zu Achtsamkeit und Selbstmitgefühl. In seine psychotherapeutische Arbeit integriert er seit Jahrzehnten Prinzipien von Achtsamkeit und Meditation. Chris gibt zwei einflussreiche englischsprachige Bände über Therapie mit heraus: Mindfulness and Psychotherapy und Wisdom and Compassion in Psychotherapy. Chris Germer und Kristin Neff haben das Programm Mindful Self-Compassion 2010 entwickelt; mittlerweile wird es vielen Ländern weltweit unterrichtet.
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