Was in schwierigen Zeiten hilft

Susanne Jäger, 7.12.2020

Wenn es in meinem Leben schwierig ist, dann brauche ich Musik. Das war schon so, als ich noch jünger war. Als meine erste „ernsthafte“ Beziehung zu Bruch ging, hörte ich eine CD rauf und runter. Das gab mir Stabilität in einer Zeit des Schmerzes und der Veränderung. Ich konnte zu diesen Songs weinen, ich konnte mich beruhigen, mein Alltag wurde wieder lebbar, weil diese Musik mich begleitete. Sie half mir, in der neuen Realität anzukommen und mit all den Gefühlen, die in mir tobten, zurechtzukommen. Mit jedem Mal Abspielen und Hören wurde nicht nur die Musik, sondern auch ich selbst mit vertrauter und in mir wuchs die Sicherheit, dass es weitergehen würde, so wie diese Musik.
Damals war es Joni Michel, die mir mit „Taming the Tiger“ über den Abgrund hinweghalf, der sich in meinem Leben damals auftat.
Später war es einmal das Lied von STS, „Kalt und Kälter“. Es sprach mich besonders an, als ich merkte, dass ich zu erstarren drohte angesichts des vielen Leids, mit dem ich in meinem Beruf konfrontiert war.

In der Gegenwart, Hier und Jetzt und „getaucht in Dunkelheit und Chaos“[*], brauche ich wieder Musik und sie ist zu mir gekommen wie ein Geschenk. Der Song, „Anthem“ („Hymne“) von und mit Leonard Cohen.
Am tröstlichsten finde ich den Refrain, der mich mitten ins Herz trifft:

Ring the bells that still can ring,
Forget your perfect offering
There is crack, a crack in everything
That’s how the light gets in. 

Anthem, Leonard Cohen

Mit jedem Mal, wenn ich den Song höre, erforschen mein Geist und mein Herz die Worte, finde ich mich selbst darin – und die Welt. Ich ergründe die Musik, das Zusammenklingen und -Wirken von Wort und Klang, das Arrangement, Strophe für Strophe, Wort für Wort, Ton für Ton.
Von mittlerweile vertrauten Worten und Klängen lasse ich mich tragen. Sie tragen mich in die Welt, wie sie wirklich ist: voll Machtgier und Verzweiflung, Liebe und Flucht, Jäger und Gejagten. Ich nehme Abschied von meinen Vorstellungen, Idealen und Chimären, den Konstruktionen, die ich mir zurechtgebastelt hatte.
Der Song tröstet mich, versöhnen mich mit all dem, was ist. Die Musik und die Worte schaffen es, dass ich das Leben so nehmen kann, wie es wirklich ist: in Freude und Leid, in Schmerz und Erfüllung und zwar gerade jetzt, in diesem Jetzt, das mich herausfordert in seinen Veränderungen und neuen Konstruktionen und Narrationen, die uns aufgedrängt werden.

Ich habe dank der modernen Medien auch Bilder zur Verfügung: Leonard Cohen, wie er wohlwollend und zugewandt in seinen späten Bühnen-Jahren dasteht, voll Wertschätzung mit dem Publikum spricht, seinen MusikerInnen dankt und ist wovon er singt: ein Mensch mit Rissen, durch die das Licht ein- und ausdringt in Form seiner Poesie und seine Musik.

Ich läute also die Glocken, folge dem Ruf der Klangschalen und Zimbeln, und folge dem Pfad der Friedfertigkeit, wenn das auch schwer fällt angesichts von Informationschaos und Ungerechtigkeit.
Ich werfe die Perfektion über Bord und lasse mich nicht von ihr versuchen, denn sie ist unerreichbar.
Ich respektieren, dass das Leben mir und allen Wesen Schrammen und Risse zufügt und sie es sind, die uns formen, zu liebenden, wohlwollenden, verständigen Wesen mit Mitgefühl. 
Ich versuche, nicht abzustumpfen oder mich zu verhärten, sondern weich und zugewandt zu bleiben, gerade angesichts von Schmerz und Leid – mir selbst gegenüber und der Welt gegenüber.

Ring the bells that still can ring,
Forget your perfect offering
There is crack, a crack in everything
That’s how the light gets in. 

Anthem, Leonard Cohen

[*]So benennt L. Cohen die Situation 2008 im Konzert bevor er den Song „Anthem“ beginnt.